Sie schmeißen Ihren
Bio-Müll noch weg?

90 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle produzieren die EU-Bürger pro Jahr. Unternehmen machen aus dem Müll nun wertvolle Produkte – sei es Geschirr, Handtaschen oder Luxuskleidung. Angefeuert werden sie von einem UN-Beschluss.

Ausgepresste Orangenschalen...
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KLEIDUNG
Das 2014 in der ostsizilianischen Stadt Catania gegründete Unternehmen Orange Fiber verwandelt die Schalen ausgepresster Orangen in Textilien. Aus der Pelle gewinnt es dazu die Zitrus-Zellulose, aus der sich seidenähnliche Garne spinnen lassen, die man wiederum zu einem weißen und matt glänzenden Stoff weben kann. Im April vergangenen Jahres brachte der florentinische Luxusmodehersteller Salvatore Ferragamo erstmals eine aus diesem Stoff bestehende Kollektion aus Blusen, Schals und Kleidern auf den Markt. Allein italienische Orangensafthersteller produzieren jedes Jahr etwa 700.000 Tonnen Schalen, die bisher fast ausschließlich auf Deponien landen. Kompost lässt sich daraus nur schwerlich machen, da es etwa zwei Jahre dauert, bis Orangenschalen verrotten. Eine Bananenschale braucht dazu nur sechs Wochen.
Gebrauchter Grüntee...
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PAPIER, BODENPLATTEN, PARKBÄNKEN
Bei Japans größtem Hersteller von Grüntee-Produkten, Ito En, fallen jedes Jahr mehr als 40.000 Tonnen gebrauchter Teeblätter an. Der Konzern ist einer der Pioniere im Recyceln von Lebensmittelabfällen und nutzt die bereits seit dem Jahr 2000 weiter. Ein Teil landet als Dünger auf Feldern. Zudem macht das Unternehmen aus den Blättern ein synthetisches Harz, das beispielsweise für die Herstellung von Bodenplatten, Parkbänken und Kugelschreibern verwendet wird. Inzwischen beliefert Ito En mehr als 150 Unternehmen mit recycelten Teeblättern. Passagiere der japanischen Airline ANA bekommen beispielsweise Servietten, die zum Teil aus benutzten Teeblättern bestehen.
Verfallene Milch...
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FOLIENTÜTEN
Schon im Jahr 1904 erhielt der deutsche Chemiker Friedrich Todtenhaupt das Patent auf ein Verfahren, aus Casein, einem Beiprodukt der Milchherstellung, Textilfasern herzustellen. Der Versuch, in den Zwanzigerjahren eine Produktion in Italien aufzubauen, scheiterte allerdings. Dem 2011 im niedersächsischen Hemmingen gegründete Unternehmen Q-Milk gelang dies später. Inzwischen stellt es sogar Folien her, die aus Casein bestehen und ohne Rohöl auskommen. Rund zwei Millionen Tonnen Milch müssen jedes Jahr in Deutschland entsorgt werden, etwa weil das Haltbarkeitsdatum im Supermarkt überschritten wurde oder zu viele Keime darin sind. Solche Milch kann Q-Milk verarbeiten. Die Folie ist binnen weniger Tage kompostierbar, anders als herkömmliche kompostierbare Plastiktüten, die dafür mitunter Jahre brauchen.
Reishülsen...
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AKKUS
Seit einigen Jahren arbeiten Forscher an verschiedenen Universitäten in Asien daran, aus Reishülsen serientaugliche Batterien herzustellen. Die Reishülsen bestehen zu rund 20 Prozent aus Silizium, das eine hohe Energiespeicherkapazität hat. Um sogenanntes Nano-Silizium zu gewinnen, werden die Hülsen verbrannt und raffiniert. Anders als die klassische Nano-Silizium-Herstellung ist für die Umwandlung von Reishülsen wenig Energie notwendig. Zudem gibt es den Rohstoff in riesigen Mengen. Reis ist das am zweithäufigsten angebaute Getreide der Welt. Jedes Jahr entstehen dadurch rund 140 Millionen Tonnen Reishülsen als Abfall. 
Kaffeesatz...
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GESCHIRR
Das Start-up Kaffeeform des Berliner Designers Julian Lechner stellt aus gebrauchtem Kaffeesatz Kaffeetassen her. Dazu mischt es das dunkle Pulver unter anderem mit Buchenholzfasern, Stärke und Zellulose und erhält so eine flexible Masse, die sich in Tassenform pressen lässt. Das fertige Material erinnert eher an Holz als an Porzellan, ist allerdings spülmaschinenfest. Kaffeesatz gibt es weltweit im Überfluss. Allein in Europa fallen jeden Tag acht Millionen Kilogramm an.
Brotreste...
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BIER
Das Schweizer Start-up Damn Good Food & Beverages braut aus den Brot-Restbeständen von Bäckereien und Supermärkten Bier. Das Brot ersetzt etwa ein Drittel des zum Brauen notwendigen Gerstemalzes. Allerdings verstößt das Bier dadurch gegen das deutsche Reinheitsgebot. An der Hochschule Niederrhein in Krefeld arbeiten Studenten zudem daran, den Brauprozess so zu optimieren, dass das Bier trotz unterschiedlicher Brotarten immer gleich schmeckt.
Gekauter Kaugummi...
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TURNSCHUHEN
Das Londoner Start-up Gumdrop ist das weltweit erste Unternehmen, das gekaute Kaugummis in ihre chemischen Bestandteile aufbricht und den synthetischen Gummi daraus gewinnt. In einem Pilotprojekt mit der Stadt Amsterdam hat es jetzt einen Turnschuh entwickelt, der zu 20 Prozent aus solchen alten Kaugummis besteht. Gesammelt werden diese in speziellen Abfallbehältern auf der Straße. In den Niederlanden landen jedes Jahr mehr als 1,5 Millionen Kilogramm Kaugummis auf den Straßen. Die öffentlichen Kassen kostet es eine Millionensumme, die zu entfernen.
Fischhaut...
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LEDER
Indigene Völker fertigen seit Jahrhunderten Leder aus den Häuten gefangener Fische. Die isländische Gerberei Atlantic Leather versucht als erste in Europa, daraus ein Geschäft zu machen. Sie wandelt die Haut von Lachsen in Leder, das Designer zu Schuhen, Portemonnaies und Handtaschen verarbeiten. Das von der EU unterstützte Unternehmen beliefert inzwischen Modehäuser wie Gucci und Prada. In riesigen Fischfarmen vor der Küste Islands und Norwegens wachsen derzeit Millionen Lachse. Nach der Verarbeitung der Tiere werden die Abfälle zurzeit ins Meer gekippt.
Ausgepresste Trauben...
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PAPIER
Das fast 300 Jahre alte venezianische Unternehmen Favini hat ein Verfahren entwickelt, um die Reste von verarbeiteten Orangen, Kiwis, Mais, Weintrauben und Haselnüssen in Papier zu verwandeln. Dabei werden rund 15 Prozent der Zellulose von Bäumen, die normalerweise zur Herstellung verwendet werden, durch die getrockneten und zermahlenen Fruchtreste ersetzt, die etwa bei der Produktion von Wein, Saft und Sirup entstehen. Das Geschäft wächst rasant, da viele Unternehmen Plastikverpackungen in Papierverpackungen tauschen.
Kaffeefruchtschalen...
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MEHL
Aus dem Fruchtfleisch der Kaffeekirsche, das die Kaffeebohne umgibt, macht das New Yorker Unternehmen Coffee Flour ein Mehl. Das schmeckt nicht nach Kaffee, sondern eher süß und eignet sich damit beispielsweise zum Backen glutenfreier Kekse und Kuchen. Zwar werden bis zu 15 Prozent der Kaffeekirschen, denen die Bohnen entnommen wurden, heutzutage als Dünger verwendet. Der größte Teil landet jedoch auf dem Müll. 
Brauereireste...
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MÜSLIRIEGELN,  KEKSEN, GEBÄCK
Das kalifornische Start-up ReGrained macht aus den Getreideresten, die beim Brauen von Bier entstehen, Müsli-Riegel. Allein in den USA produziert die Bierindustrie rund 36 Millionen Tonnen Getreideabfälle pro Jahr. Auch wenn ein Teil davon beispielsweise zu Dünger weiterverarbeitet wird, landet immer noch eine große Menge auf Deponien. In Zukunft will ReGrained auch Kekse, Brot und anderes Gebäck anbieten.
Kaffeesatz...
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OUTDOOR-JACKEN
Das spanische Öko-Modelabel Ecoalf produziert aus gebrachtem Kaffeesatz beispielsweise des US-Konzerns Starbucks Outdoor-Jacken. Aus den Überresten von 20 Tassen lässt sich ein Meter Stoff herstellen. Ecoalf trocknet, entölt und zermahlt den Kaffeesatz zu Staub und mischt diesen dann mit Polyesterpolymeren, um daraus Fäden zu machen. Der so entstehende Stoff ist wasserdicht und schützt vor Gerüchen. 
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Wer eine Ahnung von den Lebensmittelmengen bekommen will, die Jahr für Jahr im Müll landen, sollte sich vorstellen, jeden Tag eine bepackte Einkaufstüte mit Speisen aus dem Supermarkt zu tragen und in den nächsten Container zu stopfen – einen Monat lang.

Fast unvorstellbar, aber wahr: 173 Kilogramm Lebensmittelabfälle produziert jeder Europäer jährlich, weil er abgelaufene Milch oder vergammelten Käse wegschmeißt, Bananenschalen oder gebrauchte Teebeutel.

Knapp die Hälfte der Abfälle allerdings entsteht nicht in Privathaushalten, weil er zu viel Brot kaufte oder sie zu wenig Obst äße – sondern fällt bei der Verarbeitung der Waren und im Handel an. So kippt die Lebensmittelindustrie jedes Jahr mehrere Millionen Tonnen nicht essbare Pflanzen- oder Tierteile auf Deponien oder ins Meer. Und so entsorgen Supermarktketten palettenweise Nahrungsmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist.

Die Folgen der Überproduktion von Lebensmitteln sind nicht marginal. Die Vereinten Nationen schätzen, dass durch sie mehr Treibhausgase emittiert werden, als der gesamte indische Subkontinent produziert. Bereits 2015 hat die UN daher das Ziel ausgegeben, den Abfallberg bis zum Jahr 2030 zu halbieren. 193 Staaten, darunter alle Länder der Europäischen Union, haben sich auf das Ziel verpflichtet. 48 der 50 weltweit größten Lebensmittelkonzerne etwa sollen ihre Lebensmittelabfälle massiv reduzieren.

Mehr noch: „Dank des UN-Programms“ wird in diesem Bereich heute auch „deutlich mehr geforscht“, sagt Harald Rohm, Professor für Lebensmitteltechnik an der TU Dresden. Mit dem Ergebnis, dass aus Müll neue Produkte entstehen. Wissenschaftler in Asien arbeiten gerade daran, aus Reishülsen Batterien herzustellen. Die Hülsen bestehen zu rund 20 Prozent aus Silizium – das chemische Element ist eine wichtige Grundlage, um Strom zu speichern.

Die ersten Ideen haben es bereits raus aus dem Labor und rein in die Produktwelt geschafft. Aus Fischhäuten werden Handtaschen, aus durchgekauten Kaugummis Turnschuhe. Benutzte Grünteeblätter verwandeln sich in Parkbänke. Und der Kaffeesatz wird nicht mehr gelesen. Sondern zu Outdoorjacken verarbeitet.
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Text, Produktion: Thomas Stölzel; Fotos: Fotolia; Produziert mit Storyflow
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Juni 2018
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